Beim Lesen einer Bilanz sollte immer beachtet werden, dass es keinen objektiv richtigen Abschluss gib. Denn bei der Bilanzerstellung kommen zahlreiche Wahlrechte und Ermessensspielräume zu Anwendung.

Die Wahlrechte und Ermessensspielräume bei der Erstellung können im Rahmen der Bilanzpolitik eines Unternehmens stark voneinander abweichende Darstellungen zur Folge haben.

 

Welche Wahlrechte und Ermessenspielräume bestehen?

  • Bilanzansatzwahlrechte wie z. B. Aktivierung des Firmenwerts, von Aufwendungen für Ingangsetzung und Erweiterung des Betriebs oder die Dotierung von Aufwandsrückstellungen.
  • Bewertungswahlrechte wie z. B. Herstellungskosten (Höchst- oder Mindestansatz), Abschreibung auf den niedrigeren Teilwert beim Umlaufvermögen oder Einsatz- und Endbestandbewertung bei Vorräten.
  • Individualspielräume wie z. B. optimistische oder pessimistische Bemessung von Rückstellungen, Schätzung der Nutzungsdauer bzw. des Restwerts von Anlagen, Einzelwertberichtigung zu Forderungen oder Auslegungen der Fragen der Wesentlichkeit.
  • Verfahrensspielräume wie z. B. Abschreibungsverfahren, Bildung von Pauschalwertberichtigungen bzw. -rückstellungen, oder die Währungsumrechnung im Konzern.

  
Bilanzen lesen: Warum gibt es keinen objektiv richtigen Abschluss?

Einschränkungen der Bilanzpolitik liegen im Stetigkeitsprinzip, das u.a. die Beibehaltung von einmal verwendeten Methoden der Bilanzierung desselben Geschäftsfalles in künftigen Jahresabschlüssen verlangt und eine Durchbrechung nur bei Vorliegen besonderer Umstände vorsieht.

In der Praxis wird dieses Problem zwar dadurch weitgehend entschärft, als für einen in Übereinstimmung mit den GoB erstellten Jahresabschluss die Vermutung gilt, dass er ein möglichst getreues Bild der tatsächlichen Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens vermittelt. Dennoch bleibt zu bedenken, dass – auch ohne kriminelle Handlungen – kein objektiv richtiger Jahresabschluss möglich ist, und Bilanzlesende dies bedenken müssen. Mehrere Abschlüsse ein- und desselben Unternehmens zum selben Stichtag mit unterschiedlichem Ergebnis können theoretisch zutreffend und „richtig“ sein.

Somit ist Bilanzpolitik ist ein legales, facettenreiches, unternehmenspolitisches Instrument, bei dem Ermessensspielräume wenig offensichtlich sind.

 

Beispiel: Bilanzpolitik beim Lesen von Bilanzen berücksichtigen

Welche Gestaltungsspielräume hat ein Unternehmen bei der Umsetzung bilanzpolitischer Maßnahmen, um Ertragslage und Bilanzstruktur zu beeinflussen?

Am Beispiel einer fiktiven ABC GmbH soll gezeigt werden, welche Auswirkungen bilanzpolitische Maßnahmen haben können. Betrachten wir ein Unternehmen, wenn es zwei einander entgegengesetzte Bilanzierungsstrategien verfolgt. Die Werte sind jeweils Beispielwerte in Tausend Euro (TEUR).

  •  Szenario A – Gewinnminimierung: Um den Gewinn zu minimieren, werden die Bilanzansätze gewählt, die das geringste Jahresergebnis bewirken.
  •  Szenario B – Gewinnmaximierung: Um höhere Kreditwürdigkeit zu demonstrieren, werden jene Bilanzansätze gewählt, die das höchste Jahresergebnis bewirken.

Dazu wird im Folgenden die Inanspruchnahme bzw. Nicht-Inanspruchnahme von fünf Gestaltungswahlrechten simuliert.

 

1. Ermittlung der Abschreibung

Das Unternehmen hat zur Rationalisierung der Fertigungsabläufe im Berichtsjahr eine Investition in den eigenen Maschinenpark vorgenommen. Das Investitionsvolumen der im Januar angeschafften Maschine beläuft sich auf TEUR 16.350,–. Die Nutzungsdauer der Maschine beträgt zehn Jahre.

Bezogen auf das bewegliche Anlagevermögen besteht im vorliegenden Fall die Möglichkeit, die degressive (Annahme: Abschreibung 20 % im ersten Jahr) oder die lineare Abschreibungsmethode (Abschreibung pa 10 %) zu nutzen.

  • Berechnung der degressiven Abschreibung (= Aufwand) im ersten Jahr: TEUR 16.350,– x 20 % = TEUR 3.270,– (= Szenario A)
  • Berechnung der linearen Abschreibung (= Aufwand) pro Jahr: TEUR 16.350,– : 10 Jahre = TEUR 1.635,– (= Szenario B)

Je nach Bewertungsansatz ergibt sich eine Ergebnisdifferenz von TEUR 1.635,–.

 

2. Bewertung des Rohstofflagers

Der Bestand wurde zum Ultimo des Berichtsjahres mit dem gewogenen Durchschnittswert bewertet, wonach sich ein Lagerbestand in Höhe von TEUR 18.400,– errechnet.

Da bei der Lifo-Methode (am Bilanzstichtag die ältesten Bestände bewertet werden, ergibt sich bei steigenden Einkaufspreisen ein geringerer Lagerwert (und ein höherer Verbrauch) als bei der Bewertung mit dem gewogenen Durchschnittswert, der die neuen höheren Einkaufspreise mit einrechnet. Zum Ultimo des Berichtsjahres beträgt der Lagerbestand nach der Lifo-Methode TEUR 17.664,–.

Die Anwendung der Lifo-Methode führt damit zu einem geringeren Ergebnis als bei Bewertung zum gewogenen Durchschnittswert (Szenario B). Es besteht daher bei Szenario A die Möglichkeit, das (vorläufige) Ergebnis um TEUR 736,– zu reduzieren.

 

3. Wertberichtigung zweifelhafter Forderungen

Der Debitorenbestand in Höhe von TEUR 92.118,– enthält zweifelhafte Forderungen in Höhe von TEUR 4.350,– (netto). Ihre Ausfallwahrscheinlichkeit wird einmal mit 0 % (Szenario B) und ein anderes Mal mit 80 % (Szenario A) angenommen. Liegen z.B. Kenntnisse über wirtschaftliche Probleme des Schuldners vor, muss das Unternehmen das Ausfallrisiko nach eigenem Ermessen abschätzen. Je nach Risikoeinschätzung ergibt sich ein Ergebnisunterschied von TEUR 3.480,– (d.s. 80 % von 4.350).

 

4. Dotierung einer Rückstellung

Das Unternehmen wird von einem Kunden wegen mangelhafter Leistung verklagt. Der Streitwert beträgt ca. TEUR 250,–. Der Ausgang des Rechtsstreits ist ungewiss.

Bei einer eher optimistischen Einschätzung geht das Unternehmen bei Szenario B mit einer 25%igen Eintrittswahrscheinlichkeit davon aus, dass der Streitwert an den Kunden zu zahlen ist. Bei Szenario A rechnet das Unternehmen mit einer 80%igen Wahrscheinlichkeit damit, den Prozess zu verlieren.

Nach einer groben Einschätzung des Hausjuristen und des Unternehmens beläuft sich der gegebenenfalls zu zahlende Streitwert auf ca. TEUR 250,–. Auf Basis der unterschiedlichen Eintrittswahrscheinlichkeiten ergibt sich eine Ergebnisdifferenz von TEUR 138,– (d.s. 250 x 55 % Unterschied).

 

5. Sale and lease back

Bezogen auf eine relativ neue und größere Fertigungsmaschine besteht rückwirkend die Möglichkeit, einer Leasinggesellschaft die Maschine zum Kauf anzubieten und im Gegenzug einen Sale-and-lease-back-Vertrag abzuschließen.

Dem möglichen Verkaufspreis der Maschine in Höhe von TEUR 3.400,– steht ein Restbuchwert zum Bilanzstichtag von TEUR 2.600,– gegenüber.

Bei einem Verkauf des Anlagevermögens (Szenario B) werden in Höhe der Differenz zwischen Buchwert und Verkaufspreis der Fertigungsmaschine stille Reserven von TEUR 800,– (3.400 minus 2.600) aufgedeckt. Bei Szenario A unterbleibt eine solche Transaktion.

Gleichzeitig reduziert sich durch den Abgang der Fertigungsmaschine aus der Bilanz die Bilanzsumme im Umfang des Restbuchwerts in Höhe von TEUR 2.600,–.

 

Beeinflussung des Ergebnisses vor Ertragsteuern

Im Ergebnis zeigt sich, dass in der GuV in einem Geschäftsjahr unter Berücksichtigung der bilanzpolitischen Buchungen je nach Bilanzierungsstrategie eine starke – und wohlgemerkt: ganz legale – Beeinflussung des Ergebnisses vor Ertragsteuern erfolgen kann. Dabei kann Szenario A sogar zu einem Verlust führen.

Hinweis:
Das Beispiel zeigt auch, dass demgegenüber bei höheren auf dem Spiel stehenden Ausgangsbeträgen noch größere Unterschiede zwischen den beiden Szenarien möglich sind.

 

Autor: Dr. Helmut Siller, WEKA (CVA)

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